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Der zweifelsohne notwendigen Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reiches hat sich mittlerweile eine "Holocaust-Industrie" bemächtigt. Über deren Mechanismus und über die Perfektion des Vorgangs hat Iris Hanika einen irritierenden Roman geschrieben.
176 S., Pb.
Hans Frambachs Leben ist die Vergangenheit. Er arbeitet als Archivar im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung und studiert dort Dokumente aus der Nazi-Zeit, die bisher unbeachtet blieben. Auf dem Weg in sein Büro muss er jeden Morgen am Schreibtisch von Frau Kermer vorbei. Im Angesicht dieser mittelalten Kollegin mit den hässlichen Zähnen spürt er seine Einsamkeit, die verrinnende Zeit seines Lebens so sehr, dass er Frau Kermer hasst für dieses Gefühl. Iris Hanika war mit ihrem Roman "Treffen sich zwei" auf der Shortlist zum Buchpreis 2008, es war ein unerwarteter Erfolg für die Schriftstellerin, die klug, aufrichtig und ohne jede Sensationsabsicht schreibt. Ihr neuer Roman erzählt wieder von der Liebe in den mittleren Jahren und verknüpft das Thema mit der Frage, ob die Vergangenheit schwerer wiegt als der Moment.
Claudia Voigt, KulturSPIEGEL 02/2010
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Ein Roman über das deutsche Leiden an der Nazi-Vergangenheit, ganz und gar kein historischer Roman also, sondern einer über das Heute. Woher dieses Leiden rührt, ist bestens bekannt, seine Äußerungsformen jedoch sind vielfältig. Darum ist dies zugleich ein Roman über die mittleren Jahre des Lebens, über die Zeit, wenn die Gewissheit abhanden gekommen ist, dass man auf dem richtigen Weg durch die Welt geht, und es ist ein Roman über die Einsamkeit ebenso wie über die Freundschaft.
Das Eigentliche ist - für jeden etwas anderes. Für Hans Frambach sind es die Verbrechen der Nazizeit, an denen er leidet, seit er denken kann. Darum ist er Archivar im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung geworden; nur fragt er sich, ob es nicht an der Zeit für eine andere Arbeit wäre.
Auch für seine beste Freundin Graziela stand die Fassungslosigkeit über diese Vergangenheit im Mittelpunkt - bis sie einen Mann kennenlernte, der sie begehrte, und fortan die Begegnung der Geschlechter im Fleische für das Eigentliche hielt; ein Konzept, an dem sie nun zweifelt.
Aber kann man denn den Nationalsozialismus für alles verantwortlich machen? Eigentlich ist es doch ihre Unfähigkeit zum Glück, die Hans und Graziela zu so wunderlichen Gestalten macht. Nur sie selbst halten ihr Unglück nicht für gott-, sondern für nazigegeben.
Zugleich hat auch der Staat, in dem sie leben, sein Eigentliches. Es ist das unausgesetzte Bemühen um Harmlosigkeit seiner Repräsentanten, das allen voran die Bundeskanzlerin vorführt, wenn sie jede Woche übers Internet zu uns spricht.
Iris Hanika zeigt, wie die Verbrechen der Nazizeit uns bis heute in ihren Klauen halten, und übersieht dabei nicht, zu welchen Absurditäten die Professionalisierung des Gedenkens führt. Eigentlich ist unsere Hilflosigkeit angesichts dieser Verbrechen das Eigentliche.